Sonntag, 12. Juni 2011

(Groß)-Vater-Land

Als ich 23 Jahre alt war erfuhr ich, dass mein Großvater Mitglied der HJ war. Ich wusste bereits, dass er Mitglied der Wehrmacht gewesen war – nicht der SS, wie er immer betonte – Kriegsgefangener und leidender des Krieges. Es waren immer Geschichten, die Großeltern über die Zeit des Nationalsozialismus gerne erzählen. Die Apologetik des eigenen Leidens, der Minimalwiderstand als Heldentat und das eigene Unwissen als Maßstab der Bewertung des eigenen Tuns.

Mein Großvater hatte eine entsprechende Begründung für seine Mitgliedschaft in der Jugend des Führers. Es waren ja irgendwie alle Mitglieder und als der Mann von der NSDAP damals kam, da wollte doch niemand außen vor sein.

Die Rezeption der eigenen Geschichte ist für dieses Volk ein Prozess des Umdeutens, Neuinterpretierens und Erstellens von Anachronismen. Deutschland ist noch immer das Land der Dichter und Denker, aber nicht die Geburtswiege des Faschismus. Beides ist durch die historische Komponente der Ereignisse begründet – vollkommen konträr.

Die Antonyme des barbarischen Faschismus und des intellektuellen Werkes werden als Mittel zum Zweck der Erstellung einer Identität so gedeutet, wie sie gebraucht werden. Frei von jedem Maßstab der Verwendung.

Die 68er Bewegung, als erste Generation post bellum, deutete aus der nahen Vergangenheit den Auftrag zum Kampf gegen Unterdrückung – zumindest in den links-intellektuellen Zirkeln. Die konservative Jugend nutzte weiter die Seilschaften, welche auch den Faschismus überstanden hatten, welcher die alten Eliten und ihr empfundenes Recht auf Privilegien per natales nicht ausrotten konnte.

Die zweite Generation, die der Enkelkinder steht nun vor einem Problem, welchem sie sich nicht bewusst werden möchte. Die Auseinandersetzung mit der Generation der Großeltern, sofern die Auseinandersetzung der eigenen Eltern mit den Ihrigen unterlassen wurde, ist eine Pflichtübung der Selbstaufklärung und darf sich keinesfalls darin verlaufen, dass Äußerungen faschistoider Art als Schrulligkeiten abgetan oder aber damit entschuldigt werden, dass eine Person diesen Alters nicht mehr zu ändern sei.

Die Generation, die um 1980 geboren ist, hat bereits den ersten deutschen Krieg nach dem Ende des Faschismus erlebt. Der Kosovokrieg wurde damals Joseph Fischer damit begründet, dass ein zweites Auschwitz unbedingt verhindert werden müsse. Fischer bediente sich damit auf oberster Staatsebene einer Dialektik des Antifaschismus, welche in verschiedenen Zirkel der linken Intelligenzija bereits seit dem Ende des Faschismus für massive Probleme sorgte. Seit Fischer jedoch die Potsdamer Verträge und vor allem das Diktum, dass nie wieder Krieg von deutschem Boden ausgehen dürfe, ausgehebelt hat, befindet sich Deutschland an der Seite der Erbfeinde, Kriegsgegner und Befreier (Nicht zwei, gar drei Herzen schlagen da, ach, in so manchen Staates Brust) auf dem Weg des radikalen Kapitalismus.

Der Faschismus jedoch ist nur eine Spielart des Kapitalismus und gerade das sollte Deutschland gelernt haben. Und so ist es auch verständlich, dass die Reaktion auf die, wohl zu ehrlichen Worte, des Bundespräsidenten a.D., Dr. Horst Köhler, ausfielen, wie sie eben ausfielen. Dass man Wirtschaftskriege führe, dass die wirtschaftlichen Interessen und der Wohlstand dieses Staates nicht ohne Kriege gewährleistet sein kann, das ist etwas, was dem Volk nicht mitzuteilen ist, während die politischen und wirtschaftlichen Eliten dieses Staates, und auch die der supranationalen Vereinigungen, diese Notwendigkeit bereits so verinnerlicht haben, dass sie nicht einmal mehr die Oppositionen zwischen ihrem Handeln und Reden bemerken. So ist sich Horst Köhler bis heute nicht bewusst, dass er eine, für ihn basale, geradezu banale, Wahrheit aussprach, die doch plötzlich so anders klang.

Allein dies lässt berechtigte Ängste vor der zukünftigen (und aktuellen) Wirtschaftspolitik der BRD aufkommen. Schlimmer jedoch, so erscheint es mir, sind die Parallelen zwischen Antisemitismus und Islamphobie. Die beiden Xenophobien gestalten sich strukturgleich und werden zum gleichen Zweck missbraucht, gleichzeitig klein gehalten und subversiv in den nationalen Diskurs eingeführt, bis sie als Meinung en vogue werden.

Die Gefahr, welcher wir als Gesellschaft ausgesetzt sind, ist die Gleiche, wie sie es vor den beiden großen Kriegen war. Machtstrukturen in einer Legitimationskrise, die Wirtschaft in der Abwärtsbewegung und ein gut strukturiertes Feindbild, welches nationalistische Ressentiments zu bedienen weiß.

Margot Käßmann, eine Protestantin, führte auf dem letzten Kirchentag in Berlin eine kleine, katharsische Liturgie durch, welche sich auf einen Umstand bezog, der z.B. auch durch Dr. Angela Merkel, eine weitere Protestantin, herbeigeführt wurde. Dass Deutschland Waffen an Diktatoren, Despoten und andere Verbrecher liefert ist ein gern ignoriertes Faktum der deutschen Politik, was von vier bürgerlichen Parteien des Bundestages, und zu Teilen auch von der Linken, ohne Widerspruch akzeptiert wird.

Die Aufgabe der aktuellen Jugend wäre es dementsprechend die Strukturen der Macht, die mittelbare und unmittelbare Vernetzung von Krieg und Wirtschaft, die Offenlegung des Barbarischen im Kapitalismus als inhärente Notwendigkeit, die vererbbaren Privilegien der Eliten und die Spaltungen zwischen Macht und Wissen, zwischen Aktion und Reflektion, herauszuarbeiten, zu behandeln, zu diskutieren und an einer Lösung zu arbeiten.

Stéphan Hessel schrieb ein kleines, lesenswertes Büchlein mit dem Titel Indignez vous!, sein neues, bald erscheinendes Werk heißt Engagez vous! und darauf sollte man gespannt sein.

Achja, was uns die Griechenland-Krise gezeigt hat, ist unter anderem, dass nationalistische Ressentiments seitens des Boulevard gerne zur Lösung wirtschaftlicher Probleme mobilisiert werden. Während der Springerverlag gerne die Dichotomie des arbeitenden Deutschen und des faulen Griechen beschwor, spricht der griechische Boulevard nun gerne vom aufopfernden Griechen, der den Deutschen erst reich gemacht hat. So können Probleme natürlich auch umgangen werden...